Der Vater und der Zwerg

Erschöpft von einem langen Arbeitstag macht sich ein junger Vater auf den Weg nach Hause. Er will rechtzeitig zum Essen da sein und seinen Kindern einen Gutenachtkuss geben, bevor er sie zudeckt und ins Traumland schickt. Obwohl er bereits am Waldrand angekommen ist und schon den Kamin des kleinen Häuschens seiner Familie am Horizont erblickt, übermannt ihn die Müdigkeit. Erschöpft lässt er sich auf einen alten Stein fallen, der aus dem Unterholz hervorragte. Das Gesicht in den Händen verborgen, hält er einen Moment inne und lauscht dem Rauschen des Windes im verlassenen Wald. Hie und da hört man es Rascheln im Gebüsch, in weiter Ferne kneift ein Kauz.

 

Wie der junge Vater so dasitzt und seine Gedanken schweifen lässt, nimmt er plötzlich eine hektische Bewegung aus dem Augenwinkel wahr, gefolgt von einem Rauschen, er hätte schwören können es sei ein Flüstern. Alarmiert steht er auf und sucht in der Dämmerung nach der Ursache. Dort, gleich neben dem Stein steht ein winzig kleines Wesen, kaum grösser als seine Hand. Die Ohren sind lang und spitz, auf dem Kopf hat es eine schlabbrige Mütze, die etwas zu gross geraten scheint, die Augen sind pechschwarz und glänzen doch heller als ein Edelstein. Für einmal sind Müdigkeit und Sorgen vergessen. Es muss ein Zwerg sein, der junge Vater ist sich ganz sicher.

 

Als er noch klein war, hat seine Mutter ihm Geschichten über das Zwergenvolk erzählt, das im Wald ganz in der Nähe ihres Hauses wohnt. Doch egal wie oft der junge Vater als Kind nach ihnen gesucht hat, egal wieviele Steine er umgedreht und moosverwachsene Höhlen er erkundet hat, er hatte nie einen der kleinen Zwerge zu Gesicht bekommen. Und so entschied er sich, dass sie wohl nicht existierten und seine Mutter ihm nur ein Märchen erzählt hatte.

 

Jetzt blühen alle Kindheitserinnerungen wieder auf. Nur einen kleinen Schritt näher, denkt sich der junge Vater, nur noch etwas genauer hinsehen. Das schelmische Grinsen im Gesicht des kleinen Zwergs wird breiter. Blitzschnell zaubert der kleine Zwerg eine Pusteblume, weiss und flauschig, hinter seinem Rücken hervor. Seine Backen blasen sich auf wie die eines quakenden Frosches und bevor der junge Vater reagieren konnte, fliegen hunderte kleine Samen direkt in sein Gesicht und seine Augen.

 

Verwirrt reibt er sich die Augen und hält Ausschau nach dem kleinen Zwerg, doch dieser scheint wie vom Erdboden verschluckt. Lange kann sich der junge Vater darüber aber nicht wundern, denn um ihn herum sind unbeschreibliche Dinge zum Vorschein gekommen. Die düsteren Bäume, die mit ihren Ästen fast wie Arme und lange Finger nach dem jungen Vater griffen, sind strahlend hell und tanzen im Wind. Auf ihren Blättern und Nadeln summen Glühwürmchen in allen Farben, die den Wald erstrahlen lassen. Der junge Vater hüpft weiter in den Wald hinein, folgt einem zauberhaften Gesang. Es ist der Gesang der Vögel, die ihn zwitschernd auf eine Waldlichtung begleiten, erhellt vom Vollmondlicht, das durch die Äste der Bäume rundherum dringt.

 

Dort, auf einem lebensgrossen Stein, dessen Spitze aussieht wie ein Thron, sitzt der kleine Zwerg und schaut vergnügt, wie der Vater aus dem Staunen nicht mehr herauskommt. «Wer bist du?», flüstert der Vater, doch er bekommt keine Antwort. Stattdessen winkt ihn der Zwerg weiter zu sich. Er spricht nicht, aber der junge Vater versteht, dass er seine Hand ausstrecken soll. Und siehe da, der Zwerg lässt etwas hineingleiten. Es ist ein Armband, geflochten aus saftigem Gras, bestückt mit Baumrinde und grünem Moos. Viel schöner aber ist der glänzende, silberne Anhänger in Form einer Pusteblume. Eine Pusteblume, wie sie der kleine Zwerg dem jungen Vater eben noch ins Gesicht gepustet hat. Es war ein verzaubertes Armband, das dem jungen Vater erlaubte, auch ohne die Wirkung der Pusteblume immer an diesen Ort zurückzukehren und diese fantastische, magische Welt zu sehen.

 

Als der Vater wieder aufblickt und sich für dieses unglaubliche Geschenk bedanken will, da ist der kleine Zwerg verschwunden. Aber der Wald leuchtet immer noch und der Vater versteht, dass der kleine Zwerg ihm nun die Augen für immer geöffnet hat. Mit Dankbarkeit erfüllt, macht sich der junge Vater zurück auf seinen Heimweg, das Armband mit dem Anhänger sicher in seiner Hosentasche. Mit vollem Herzen nimmt er zwei Schritte auf einmal, nur um schneller zu Hause bei seiner Familie sein zu können. Im Gedanken daran, dass er seiner Familie dank des verzauberten Armbands diese magische Welt gleich hinter ihrem Haus nun ebenfalls zeigen konnte, schienen aller Kummer und alle Sorgen vergangen.

 

Denkt immer daran, Wunder können nur die Erblicken, die mit wachsamen Augen und offenem Herzen die Welt zu entdecken.

Ab der Weihnachtszeit könnt ihr euch die Geschichten auch anhören.